N. 8 – 2009 –
Memorie//XXIX-Roma-Terza-Roma
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Über
die Heiligkeit des Heiligen Römischen Reiches[1]
Das Heilige ist seinem Wesen nach
rational nicht erfassbar. Es ist dem Glaubenden selbstverständlich und
offenbare Wirklichkeit, dem Ungläubigen bleibt es fremd. Es hat weder
Anbeginn noch Ende, ist nicht in der Zeit entstanden und kann nicht in ihr
vergehen. Dabei ist besonders im Hinblick auf die Heiligkeit des Heiligen
Römischen Reichs zu beachten, dass das Reich nicht etwa ein sanctum, sondern ein sacrum imperium ist. Beide Worte werden nicht synonym verwendet. Die
Frage, inwieweit sich voneinander unterscheiden, beantworten die Digesten. Im Titel “De divisione rerum et qualitate” lehrte Marcian[2]: «Sanctum
est, quod ab iniuria hominum defensum atque munitum est». Richtig übersetzt
man sanctus also nicht mit
“heilig”, sondern “geheiligt, geweiht”. Zu den
geweihten Gegenständen rechnete Marcian
beispielsweise unter anderen die Stadtmauern. Es ging bei der sanctitas mithin um einen gesteigerten
Rechtsschutz der geheiligten Gegenstände, während von göttlicher
Stiftung und Majestät, menschlicher Furcht und Verehrung nicht die Rede
war. Auf die Frage nach dem Unterschied der Bedeutungen von sanctus und sacer antwortete Ulpian[3]:
«Proprie dicimus sancta, quae
neque sacra neque profana sunt, sanctione quadam confirmata, ut leges sanctae
sunt». Allerdings kannte er auch “sacra loca, quae publice sunt dedicata” und ließ die
Bedeutung von sacer mit der von sanctus verschwimmen. Indem er aber eine
Stufenfolge vom Profanen über das Geheiligte/sanctum zum Heiligen/sacrum
behauptete, deutete er an, dass sich beide Begriffe wesentlich voneinander
unterschieden. Nur was sanctum werden
sollte, bedurfte einer sanctio, eines
Aktes der Heiligung und Weihe. So wurden die Gesetze durch
“Sanktion” dem Profanen entnommen und unter einen gesteigerten
Rechtsschutz gestellt, wurden von den Bürger zu respektierende,
unverletzliche Gegenstände der Verehrung. Sanctum war ein Gegenstand also nicht kraft seiner Natur, konnte es
zwar, musste es aber nicht werden. Sacrum
dagegen war etwas ursprünglich, kraft seines Wesens Heiliges und bedurfte
keiner Heiligung durch Menschen. Wenn sich das Römische Reich mit dem
Prädikat sacrum schmückte,
war dies sein Anspruch, dass es nicht von Menschen geheiligt worden, sondern
eine Gott war, vor Anbeginn der Welt für alle Zeiten eine der Menschheit
gewidmete göttliche Offenbarung.
Diese Feststellung wird allerdings in
Frage gestellt durch den sonstigen Wortgebrauch von sacer in den römischen Rechtsquellen[4].
Unter den 605 Belegen aus dem Corpus iuris civilis, den Institutionen des
Gaius, den Paulus-Sentenzen und den Fragmenta vaticana gibt es viele
Wortverbindungen und –abwandlungen von sacer, vor allem in Gestalt von sacratissimus
und sacrosanctus, ohne dass sich
diese eindeutig von sacrum abgrenzen
lassen. Mit sacratissimus wurde in
der Regel bezeichnet, was mit der weltlichen Herrschaft, insbesondere mit der
Person des Kaisers zu tun hatte, während sacrosanctus vornehmlich dem kirchlichen Sprachgebrauch
angehörte. Dazu seien hier einige Beispiele aus der Fülle von Belegen
mitgeteilt. So wird sacratissimus in
Verbindung mit imperator,
princeps, constitutio, legislator, urbs,
palatium, civitas, aedes,
fiscus, iussio, ecclesia, largitio,
comitatus, vasa, virgo verwendet, sacrosanctus dagegen in Verbindung mit ecclesia, evangelium, scriptura,
religio, baptisma, symboluni,
mysterium, altare, lex,
antistes. Das Wort sacer endlich
gewann in seiner Verbindung mit den anderen beiden einen geradezu
inflatorischen Charakter: adnotatio,
aedes, apex, auditorium, beneficium,
certamen, civitas, color,
consistorium, cubiculum, dominium, delegatio,
epistola, fames, familia, iudicium,
iussio, lex, largitio,
locus, moneta, mons, oraculum,
oratio, palatium, paterna, praefectura,
patrimonium, pragmatica sanctio,
res, rescriptum, scriptura, statua principis,
sacerdos, urbs, vasa,
vestis. In dieser Fülle der Bedeutungen und des Wortgebrauchs von sacer lassen sich in den späteren
Rechtsquellen zwar Schwerpunkte, nicht aber klare Begriffe erkennen. Die
Inflation der Superlative nahm in der Kaiserzeit, noch mehr aber in Byzanz
deutlich zu.
Was aber bedeutete sacer in den Quellen des römischen Rechts im Hinblick auf das imperium? Lässt sich hier eine
Kontinuität vom römisch-byzantinischen Wortgebrauch zum Titel des
späteren Heiligen Römischen Reiches feststellen? Trotz des
byzantinischen Kaiserkultss,
seines heilig-kultischen Hofzeremoniells[5]
und der Legitimation des Reiches durch die christliche Lehre[6]
bekommt man im spätantiken Recht auf diese Frage und auf jene nach einer
vom byzantinischen Reich als solchem etwa beanspruchte Heiligkeit keine
Antwort. Während nämlich sacer
in allen seinen Wortverbindungen immer auf den Kaiser und dessen Kult bezogen
ist, fehlt jeglicher Beleg, der dem Reich selbst originäre Heiligkeit
zuerkannt hätte. Die Wortverbindungen sacrum
imperium, sacrum regnum kommen im römischen
Recht nicht vor. Nur der Kaiser, nicht aber sein Reich war heilig.
Angesichts dieses Schweigens der antiken
Rechtsquellen muss man beim Titel des mittelalterlichen Heiligen Römischen
Reichs selbst ansetzen und prüfen, wann, warum und von wem das
Prädikat sacrum in dessen Titel
aufgenommen wurde. Diese Frage ist seit langem beantwortet. Das Sacrum Imperium Eomanum führt das
Prädikat der Heiligkeit seit dem Jahr 1157 in seinem Titel[7],
während der Zusatz “deutscher Nation” dem Titel erst im Jahre
1474 beigegeben wurde[8].
Diese Tatsache kann allerdings noch nicht klären, worin das Wesen der
Heiligkeit des Reiches bestand. Zu fragen ist also zuerst nach den
theologisch-philosophischen Grundlagen und den staatsrechtlichen Motiven der
Erweiterung des Reichstitels vom Jahre 1157.
Auf der Suche nach geschichtlichen Wurzeln der Neuerung von 1157
muss man zuerst in der Bibel nachfragen. Dort entdeckte die alte Kirche auf der
Suche nach staatsrechtlicher Legitimation des christianisierten Imperium
Romanum im Alten Testament das Buch des Propheten Daniel. Sie fand darin den
Beweis, dass mit dem Römischen Reich das von Daniel vorhergesagte letzte
Weltreich Wirklichkeit geworden und damit das Ende aller Zeiten gekommen war.
Bei Daniel entdeckte sie den Beweis der Heiligkeit dieses letzten aller
Weltreiche[9]:
«Das Reich und die Macht und die Gewalt über die
Königreiche unter dem ganzen Himmel wird dem Volk der Heiligen des
Höchsten gegeben werden, dessen Reich ewig ist, und alle Mächte
werden ihm dienen und gehorchen».
Es war mit diesem Reich zwar eigentlich
das allen irdischen Großreichen folgende göttliche Heilsreich
gemeint, nicht also eigentlich das römische, letzte irdische Reich. Aber
war mit dessen Christianisierung nicht bereits hier auf Erden die
verheißene Gottesherrschaft angebrochen? Der mittelalterlichen
Schriftauslegung machte es keine Schwierigkeiten, dieses “Reich/regnum” in Byzanz verwirklicht zu
sehen, zumal bereits die vorchristliche Reichsideologie gelehrt hatte, dass das
Reich der römischen Kaiser ewig sei[10].
Mit dem Danielswort ließ sich nun um so nachdrücklicher die
Endgültigkeit und Ewigkeit des christianisierten Römischen Reiches
beweisen.
Es hat im Abendland immer die Behauptung
der Heiligkeit weltlicher Herrschaft in der Spätantike wie im Mittelalter
gegeben. Pippin und Karl der Große dachten nicht daran, auf den Anspruch
geheiligte Herrschaft zu verzichten[11].
Dies um so weniger, weil die den Karolingern fehlende Geblütsheiligkeit
ein Makel war, der nur mit Hilfe der Kirche ausgeglichen werden konnte. Wie
immer man die Kaiserkrönung Karls des Großen vom Jahre 800 im
übrigen bewerten mag, ist doch deren heilsgeschichtliche Deutung durch
ihre Zeit unübersehbar[12].
Kaiser Karl beanspruchte für sich das Vikariat Christi. In Rom hatte ihm
der Papst nach Behauptung der fränkischen Reichsannalen, die Proskynese
erwiesen. Dort habe ihn das Volk der Römer als a Deo coronatus begrüßt. Karl war der neue David, rex et propheta, rex et sacerdos. Nach
den Worten Alkuins war sein Reich ein sacratissimum imperium[13], der Kaiser selbst ein sanctus imperator[14].
Dies alles waren Prädikate, die man
im Reiche Karls des Großen von Byzanz entlehnt hatte. Damit aber hatte
man das sacrum imperium von 1157 noch
nicht vorweggenommen. Die karolingische Wortwahl entsprach jener des Corpus
iuris, insbesondere des Codex Justinians, und war Nachahmung oströmischer
Herrschaft. Zwar war nun die unmittelbare Heiligkeit des Reiches selbst
unabhängig von jener des Kaisers sprachlich in der Wendung sacratissimum imperium möglich
geworden, doch scheint sich Alkuin der unterschiedlichen Bedeutung von sacer und sanctus nicht mehr bewusst gewesen zu sein. In seiner gehaltvollen
Besprechung der “Deutschen Verfassungsgeschichte” von Georg Waitz hat vielmehr W. Sickel[15] zutreffend die Summe des byzantinischen Erbes für das Abendland im
allgemeinen und für das Karolingerreich im besonderen zusammengefasst:
«Aus der Heiligkeit des Kaisers ist die Heiligkeit des
römischen Reiches hervorgegangen, wohl in der Weise, daß an die
persönliche Eigenschaft des Imperators sich die Vorstellung
anschloß, auch der von ihm regierte Staat sei ein heiliger Staat, ohne
daß diese neue Staatseigenschaft bei den Griechen die persönliche
Heiligkeit des Kaisers beseitigt oder auch nur in den Hintergrund gedrängt
hätte. Der neue Begriff des heiligen römischen Reiches ist, soviel ich
bemerkt habe, erst in christlicher Zeit und wahrscheinlich auch durch
christliche Ideale geschaffen worden».
Sickel legte für diese These eine Fülle von Belegen vor.
Es gab in der ost- wie der weströmischen Welt die Rede von einer hagia basileia und einem sanctum imperium. Auch fällt die
Häufung dieser Formeln in der Karolingerzeit auf. Etwas aber fehlt in
dieser reichen Sammlung einschlägiger Belege: die Formel sacrum imperium. Percy Ernst Schramm[16] betonte zwar, dass wir eine Fülle
antiker Belege für das “heilige Reich” besitzen. Das trifft
zwar zu, aber mit der Einschränkung, dass das spätere sacrum imperium dort noch fehlt und dies
auch in der am Alten Testament und dessen Heiligkeitstheologie
anknüpfenden Reichstheorie Kaiser Ottos I des Großen. Dass dies dem
Zufall oder sprachlicher Ungenauigkeit zu verdanken wäre, kann man nicht
annehmen. Auch für das Karolingerreich galt noch das in Byzanz bereits
bemerkte argumentum e silentio. Sanctus war nicht sacer, das karolingische sacratissimum
imperium nicht das spätere Sacrum
Imperium Romanum. Das Reich der Karolinger war auch insoweit nicht mehr als
die letzte antik-römische Renaissance. Seine Titulaturen knüpften an
der Vergangenheit an und wiesen in diese zurück, waren aber nicht Ausdruck
eines in die Zukunft blickenden Selbstverständnisses. Das Karolingerreich
war also kein Bindeglied zwischen dem byzantinischen Imperium und dem Sacrum
Imperium Romanum.
Damit führt die Frage nach der
Heiligkeit des Reiches schließlich doch zurück zu jener, warum
dieses Prädikat ein Teil des Reichstitels hat werden können und was
das Reich damit für sich beanspruchte. Da hierfür weder theologische
noch staatsrechtliche Vorbilder vorhanden gewesen waren und es vermocht hatten,
ihm dieses Prädikat zu verschaffen, liegt das Problem zuerst in der
Titelreform selbst. Hier stehen wir auf sicherem Boden. Das Prädikat sacrum wurde dem Imperium im Jahre 1157
beigegeben. Es verdrängte alle anderen ähnlichen Prädikate und
wurde von da an ständig verwendet. Den Schritt von dem durch die
Heiligkeit der Person des Kaisers geheiligten sanctum zum eigenständigen Sacrum
Imperium vollzog Kaiser Friedrich I.
Barbarossa in einem Schreiben an Bischof Otto von Freising vom April 1157[17]:
«Weil Wir dank
göttlicher Vorsehung die Herrschaft über die Stadt Rom und die Welt
innehaben, müssen Wir uns wegen vorgefallener Ereignisse und des Ganges
der Zeit um das heilige Reich und das göttliche Gemeinwesen
kümmern».
Es ging dem Kaiser um eine neue
Reichspolitik und um ein diese begründendes neues Selbstverständnis
des Reiches[18].
Die Vermutung aber, dass die Einführung des Heiligkeitsprädikats
Ausdruck und Bestätigung des an kaiserlichen Hof aufblühenden
Karlskults gewesen wäre, muss man wohl verwerfen. Das Karolingerreich war,
wie gesagt, für die Entwicklung einer solchen Neuerung als Vorbild
ungeeignet. Ursache der Titelreform war vielmehr die Auseinandersetzung des
Kaisers mit der römischen Kurie, des Investiturstreits. Hierzu gibt Percy
Ernst Schramm einen wichtigen Hinweis[19]
mit dem Stichwort imitatio. Es habe
in der Konkurrenz zwischen Sacerdotium
und Imperium auf beiden Seiten das
Bestreben gegeben, sich die Prädikate der Gegenmacht auch seinerseits zu
bedienen und sie sich anzueignen. Unter Hinweis auf den Dictatus Papae Papst Gregors VII. vom Jahre 1071 und dessen
Lehrsatz[20]:
«VIII. Quod solus (Romanus pontifex
bezw. papa) possit uti imperialibus insignis» zeigte Schramm, dass es auf Seiten der Kurie eine imitatio imperii gab. Bereits seit der
Zeit der sächsischen Kaiser aber gab es ebenso eine imitatio sacerdotii des Reiches. Kaiser Otto I. der Große
hatte dies aller Welt bei seiner Kaiserkrönung vor Augen gestellt. Er
hatte sich nach dem Zeugnis Liutprands der Christenheit in einem «mirus ornatus novusque apparatus/neuen,
staunenswerten Ornat» gezeigt. An dessen Gürtel hingen, wie an jenem
des Hohenpriesters, Glöckchen, auf seinen Schultern trug er den
“Weltenmantel”, wie er mit seinen Sternbildern schon vom
Hohenpriester getragen worden war. Auf seinem Haupte ruhte die Reichskrone,
deren Schmuck gleichfalls eine Bezugnahme auf das Alte und das Neue Testament,
die weltliche und die geistliche Gewalt des Kaisers war. Zudem trug der Kaiser
wie die Hohenpriester des Alten Bundes eine weiße Mitra. Eine solche
imperiale imitatio ecclesiae hatte es
bis dahin nicht gegeben.
Kaiser Otto I. der Große hatte das
Priesterkönigtum Davids und Salomos nachgeahmt und dessen Rang für
sich beansprucht. Die Heiligkeit seines Kaisertums wurde biblisch
begründet und machte dem Papst den Anspruch auf alleinige Heiligkeit
streitig. Diese kaiserliche Heiligkeit war aber noch immer personaler und nicht
institutioneller Natur. Zwischen der Kaiserkrönung Ottos des Großen
im Jahre 962 und der Titelreform von 1157 lagen zwei Jahrhunderte, in denen der
Konflikt zwischen Papst und Kaiser an Härte ständig zugenommen hatte,
damit aber auch der Bedarf nach des Imperiums nach transpersonaler Verfestigung
seiner Herrschaft. War auch das Kaisertum Ottos I. noch als heilig dargestellt
worden, musste dies nun, weitaus klarer, durch Friedrich I. Barbarossas
für das Reich selbst zum Ausdruck gebracht werden und zur Sprache kommen.
Gestützt auf die Bibel und das wiederentdeckte Corpus iuris, beanspruchte
Barbarossa originäre Heiligkeit nicht für sich selbst, sondern
für das Reich. Dass sie transpersonal und institutionell verankerte war,
war Imitation der seit je institutionellen Heiligkeit der Kirche. Zwar
ließe sich diese Einsicht hier noch weiter vertiefen[21],
doch muss in diesem Rahmen die Feststellung des Aufkommens und von nun an
konsequenten Verwendens des transpersonalen Sacrum-Prädikats in der
Rechtspropaganda des Reiches genügen.
Das neue Prädikat fand in der gesamten europäischen
Christenheit und sogar darüber hinaus, etwa bei den Türken
Anerkennung. Zwar beanspruchten die aufsteigenden Nationalstaaten für ihre
Regenten neue, heiligende Titel, etwa “Verteidiger des Glaubens”
oder “allerkatholischste Herrscher”, doch waren diese personaler
Natur. Allein dem Reich wurde dessen institutionelle Heiligkeit als dem
gottgewollten, mit jener gemeinsam zum Weltregiment berufenen Gegenüber
der Heiligen Kirche zuerkannt. Auch die Anhängern der Reformation
verweigerten dem Reich diesen Titel nicht. Zwar bestritten die protestantischen
Fürsten des Reichs der Römischen Kirche das Prädikat der
Heiligkeit und erzwangen im Reichstag zu Regensburg im Jahre 1751 den
Kompromiss, wonach sie ihrerseits nur von der “Römischen
Kirche” statt der “Heiligen Römischen Kirche” zu reden
befugt waren. Die Heiligkeit Reiches aber stellten sie nicht in Frage. Bis
heute ist es das Heilige Reich, Saint Empire, Holy Empire, Sacro Impero.
Daran hielt auch die Wissenschaft des
Reichsverfassungsrechts, die so genannte Reichspublizistik fest[22].
Sie betonte stets die Gleichrangigkeit und gleiche Heiligkeit von Imperium
und Sacerdotium. Ihre Lehre zum Heiligkeitsprädikat des Reiches
fasste Johann Heinrich Boecler (1611-1672)
in seinem 1681 posthum veröffentlichten Aufsatz über den Titel
des Reichs zusammen[23].
Bei ihm finden sich schon alle Argumente und Bedenken, die spätere
Forschung dazu zusammentrug. Auch der gelehrte Karl Zeumer[24] hat im Vergleich zu Boecler nichts wesentlich Neues gesagt. Nach
Boecler stand das Prädikat der Heiligkeit allein dem Imperium Romanum zu.
Es werde von allen anderen, sogar den nichtchristlichen Staaten, geachtet.
Boecler kannte auch das Datum des
Jahres 1157 und das im Investiturstreit begründete Motiv nachahmender
Heiligkeit des Reiches. Er wusste, dass sacrum
nicht gleichbedeutend mit sanctum ist
und dass sich eine unmittelbare Kontinuität vom byzantinischen Kaisertum
zum Heiligen Reich nicht herstellen lässt. Er kannte die Begründung
der Heiligkeit durch den Propheten Daniel. Das Reich sei ein imperium venerabile et inviolabile. Es
sei das Haupt der Christenheit, kein Staat unter Staaten, sondern die
Verfassung des christlichen Europa. Es habe seine Heiligkeit ebenso gegen den
Papst wie gegen die Ungläubigen bewiesen. Bis auf den heutigen Tag habe es
trotz aller Irrwege und Schicksalsschlägen dank der göttlichen
Vorsehung Bestand gehabt[25].
Es besitze einen nur ihm eigenen Charakter, aliquid
habet proprium, singulare, publicum, solenne, dessen sancta mysteria sich allen Disputationskünsten und
Wortklaubereien der Grammatici entziehe. Auf dieses Reich und dessen Heiligkeit
gründe sich die Zukunft der Christenheit und damit Europas. Boecler war
das Reich wegen dessen Heiligkeit ein Gottesbeweis, das in der Geschichte
offenbar gewordenes Zeichen der göttlichen Fürsorge für Europa.
Im Jahre 1806 soll nach verbreiteter
Lehre das Heilige Römischen Reich Deutscher Nation
“untergegangen” sein. Aber wie ist diese Behauptung mit dem
Charakter seiner Heiligkeit zu vereinbaren? Konnte der im Jahre 1806 die
Kaiserkrone niederlegende habsburgische Kaiser Franz II. auch das Ende des
Heiligen Römischen Reiches proklamieren?[26]
Dass er rechtlich dazu nicht in der Lage war, sagte bereits die
Reichsverfassung. Franz II. hatte vor seiner Krönung die ihm von den
Reichsständen vorgelegte Wahlkapitulation[27]
beschworen und gelobt, Haupt der Christenheit und deren Schutzherr zu sein. Er
hatte sich in Artikel II verpflichtet: «das Reich zu “schirmen und
zu mehren” und versprochen, niemals nach der Erblichkeit des Kaisertums
für sich und sein Haus zu streben. Schließlich hatte er gelobt, die
Reichsgrundgesetze “stets fest und unverbrüchlich halten” zu
wollen».
Dass der bisherigen Kaiser Franz II., nun als Franz I. Kaiser
seiner österreichischen Erblande, das Reich nicht hat auflösen
können und wollen, beweist der Text seiner Abdikationsurkunde. Zwar durfte
er nach althergebrachtem Reichsverfassungsrecht für seine Person abdanken.
Rechtlich unzulässig war dagegen die Erklärung, dass auch das Heilige
Römische Reich damit beendet werde und als aufgelöst zu betrachten
sei. Die Verfasser der der Abdikationsurkunde wussten das wohl und vermieden
deshalb die Verwendung des Wortes “Auflösung” oder einer
ähnliche Formulierung. Franz II. erklärte vielmehr lediglich, dass er
auf die Krone des Reiches “verzichte”. Das war nicht mehr und nicht
weniger als die persönliche Abdankung eines dazu berechtigten Oberhauptes
des Heiligen Römischen Reiches, mochte es diesen Verzicht auch für
seine ganze Dynastie erklären. Das Heilige Römische Reich aber
bestand auch nach dieser Abdikation fort und dies letztlich wegen dessen
Heiligkeit.
Das war auch der Grund, dass nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft
über Europa die Forderung nach Reform des Reiches und Wiederherstellung
der Kaiserkrone in Reich und Kirche weit verbreitet war[28].
Dass dies unter den neuen politischen Bedingungen nicht möglich war, steht
auf einem anderen Blatt. Doch darf man auch heute noch fragen, ob es wirklich
nur ein ohnmächtiges Kommentieren der Beschlüsse des Wiener
Kongresses war, als Papst Pius VII. am 14. Juni 1815 in Wien seinen Protest
gegen die dort beschlossene faktische Auflösung des Heiligen Römischen
Reiches überreichen ließ und feststellte[29]:
«Ipsum
denique sacrum Imperium romanorum, politicae unitatis centrum jure habitum, et
religionis sanctitate conseratum, minime redintegratum est».
Ahnte der Papst etwa, dass mit der verhinderten Erneuerung des
Heiligen Römischen Reiches auch die Heilige Römische Kirche in den
Abgrund gerissen zu werden drohte und mit beiden womöglich das christliche
Europa?