«Nach einer Zeit, in der der Philosoph wie jeder
andere die ihm teuersten Probleme beiseite lassen musste, um
sich mitten in den Kampf zu begeben, muss er jetzt mit
erhöhtem Ernst zu seinen spezifischen Problemen zurückkehren»
- nun freilich «im tieferen Bewusstsein seiner eigenen Aufgabe
und Verantwortung». Mit diesem Editorial eröffnete der junge
Ordinarius für Rechtsphilosophie Norberto Bobbio 1946 den
Nachkriegsjahrgang der «Rivista di filosofia». Als Bobbio 1935
in die Redaktion der Zeitschrift eingetreten war, war auch
sein Briefwechsel mit dem verdeckten De-facto-Herausgeber
Piero Martinetti - einem der elf Professoren Italiens, die
1931 den obligatorischen Treueid gegenüber dem
Mussolini-Regime verweigert hatten - in die Hände der
faschistischen Geheimpolizei gelangt. Bobbio wurde zum Verhör
vorgeladen und kam mit einer Abmahnung davon, doch seine
Universitätskarriere schien nunmehr administrativ blockiert.
Dass sich der junge Privatdozent daraufhin in einem
Bittschreiben an «Seine Exzellenz Cavaliere Benito Mussolini,
Villa Torlonia» wandte (und auch ein hochrangiger Onkel für
ihn beim Duce vorstellig wurde), ist der Fehltritt, den sich
der alte Moralist Bobbio nie verzeihen konnte. Dieser Makel
konnte verdrängt, aber nicht ungeschehen gemacht werden -
gerade weil der Agnostiker Bobbio nicht an ein Verzeihen im
Jenseits glauben mochte: «Die Diktatur korrumpiert die Seele
der Personen, und das war - aus der Feder eines
Intellektuellen aus bildungsbürgerlichem Hause - ein serviler
Brief», gab er 1992 zu.
Nur aus dem Gefühl moralischer Pflicht wandte sich
der 1909 als Sohn eines angesehenen Turiner Arztes geborene
Bobbio dann in den vierziger Jahren dem antifaschistischen
Kampf zu. Ein politischer Denker war er, kein politischer
Aktivist, und stets fand er die theoretische Debatte weitaus
spannender als die politische Aktion. Wie seine Frau Valeria
Cova und wie zahlreiche seiner «liberalsozialistischen»
Freunde war auch Bobbio nicht im gutbürgerlichen Elternhause,
sondern im Turiner Gymnasium Massimo d'Azeglio
antifaschistisch sozialisiert wurden.
Zweite Geburt
Die Resistenza hat Bobbio im Rückblick als seine
«zweite Geburt» bezeichnet: die Geburt zum authentischen -
nämlich öffentlichen - Leben. Seit 1935 hatte er der Turiner
Widerstandsgruppe «Giustizia e Libertà» angehört und später
(1943-1945) am Untergrundkampf des «Partito d'Azione»
teilgenommen. Diese «typische Intellektuellenpartei» (Bobbio)
stellte zwar 1945 mit Feruccio Parri den ersten Regierungschef
des befreiten Italien, löste sich aber schon 1947 nach ihrer
verheerenden Wahlniederlage wieder auf.
Sobald Faschismus und deutsche Besatzung
abgeschüttelt waren, kehrte Bobbio ans philosophische Katheder
zurück. Sein Leben, meinte er, sei uninteressant - das
langweilige Dasein eines Hochschulprofessors. In Bobbios
letzten Lebensjahren sollten freilich gerade seine
persönlichen Schriften in die italienischen Bestsellerlisten
kommen: «De senectute» (1996, dt. im Wagenbach- Verlag: «Vom
Alter»), sein Lob der Sanftmut, «Elogio della mitezza» (1994),
und seine Autobiographie (1997).
Von 1948 bis 1984 lehrte Bobbio an der Universität
Turin. Seine Vorlesungen - und viele von ihnen wurden dann
Bücher - atmen die Ernsthaftigkeit seiner Heimatstadt: der
Stadt de Maistres und Cavours, Gramscis und Einaudis. Die
erste Hauptstadt der italienischen Einigung, dann Hochburg von
Industrie und Positivismus, der Arbeiterräte und des
Liberalismus, verkörpert in Italiens kollektivem Gedächtnis
immer noch die tragischen Konflikte, die methodische Würde und
die uneingelösten Versprechungen der Moderne.
Vom publizistischen Einsatz für ein «Italien des
Bürgersinns» - «Italia civile» (1964) - hat der Turiner
Ordinarius nicht abgelassen. Seine gefürchteten
Zeitungsartikel in der Turiner Tageszeitung «La Stampa» waren
Lektionen im öffentlichen Vernunftgebrauch. Nach 1984 machte
der Emeritus den Leitartikel zum Katheder. Und es waren gerade
Bobbios eindeutige Definitionen und klare Distinktionen -
zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Politik und Kultur,
zwischen Liberalismus und Demokratie -, auf die sich auch sein
unanfechtbares politisches Ansehen gründete.
In legendären Kontroversen - gesammelt in seinen
Büchern «Politica e cultura» (1955) und «Quale socialismo?»
(1977) - profilierte sich der linksliberale Philosoph zum
intellektuellen Antipoden des italienischen Kommunismus. Auch
deshalb wurde später Bobbios Fibel «Rechts und Links» (1994)
zu einem Bestseller: Erstmals seit 1948 war der
ethisch-politische Links-Rechts- Gegensatz nicht mehr von
weltpolitischen Gegnerschaften überlagert.
In den fünfziger Jahren hatte Bobbio die
bürgerlichen Freiheitsrechte und die liberale Demokratie des
Westens gegen den marxistischen Vorwurf verteidigt, blosse
kapitalistische Herrschaftsform zu sein. Dies bewahrte ihn
nicht davor, auch die «Zukunft der Demokratie» (dt. 1988,
Rotbuch-Verlag) mit realistischer Skepsis zu betrachten.
Zugleich beharrte Bobbio stets - wie Benedetto Croce - auf der
Freiheit der Kultur; auf der Freiheit des Intellektuellen
gegenüber allen nationalen, religiösen oder parteipolitischen
Ansinnen.
«Militante» Philosophie
Die ersten akademischen Veröffentlichungen Bobbios
hatten sich mit Existenzialismus und Phänomenologie befasst.
Nach dem Kriege beteiligte er sich dann - mit dem Turiner
«Zentrum für methodologische Forschung» - am
interdisziplinären Dialog zwischen analytischer Philosophie,
den Sozial- und den Naturwissenschaften. Unter dem Einfluss
der «Reinen Rechtslehre» Hans Kelsens und dann des Oxforder
analytischen Rechtsphilosophen H. L. A. Hart wandte
sich Bobbio schliesslich dem sogenannten Rechtspositivismus
zu: einer logischen und soziologischen Analyse des Rechts als
Wirklichkeitswissenschaft. Als engagierter Moralist stand
Bobbio in der Tradition der Freiheitsideale der Aufklärung;
als politischer und Rechtstheoretiker folgte er hingegen der
realistischen soziologischen Tradition Gaetano Moscas und
Vilfredo Paretos - «Saggi sulla scienza politica in Italia»
(1969) - und natürlich der Soziologie Max Webers. Als
Vorläufer beider Traditionen, auf den sowohl das
rationalistische Naturrecht als auch die realistische
Politikauffassung zurückgehen, sah er Thomas Hobbes.
Sein schönstes Buch - «Una filosofia militante»
(1971) - widmete Bobbio dem empiristischen Aufklärer und
föderalistischen Theoretiker des italienischen Risorgimento
Carlo Cattaneo, der sich nach dem Scheitern des Mailänder
Aufstands von 1848 in die Schweiz nach Lugano zurückzog.
Cattaneos Interesse galt eher dem intellektuellen und
industriellen Fortschritt als der politischen Aktion; in
seiner berühmten Zeitschrift «Il Politecnico» widmete er sich
«angewandten Forschungen zur sozialen Wohlfahrt und Kultur».
Cattaneos wirklichkeitshungriger Empirismus erschien Bobbio
als die «einzige Philosophie, so fragmentarisch und
unsystematisch, wie auch immer man will, aus der wir im Kampf
der Ideen gegen die alte (katholische) Scholastik und wider
jene neue, nicht minder verletzende Scholastik der Linken,
also wider die Integralisten der Kirche und die der
(kommunistischen) Partei, Stärkung und Aufklärung zu ziehen
vermochten».
Doch der programmatische Titel «Una filosofia
militante» war zugleich Bobbios Antwort auf den Aktionismus
der radikalen 68er Linken, mit welcher er, der Professor in
der Fiat-Stadt Turin, einem der Zentren der Arbeiterkämpfe des
italienischen «heissen Herbstes», heftige Konflikte hatte.
Ähnlich wie Max Weber im Revolutionswinter 1919 für die
«Wissenschaft als Beruf» sah jetzt Bobbio die wahre «Militanz»
für die Philosophie - d. h. ihre ureigenste «politische
Arbeit» - nicht in der Aktion, sondern in der Aufklärung: in
der methodischen Analyse von politischen Institutionen und
Doktrinen, von sozialen und Rechtsnormen.
Im «Times Literary Supplement» wurde Bobbio, der
am 9. Januar im Alter von 94 Jahren in Turin gestorben
ist, einmal «der italienische Aron» genannt. Aber natürlich
hinken alle Vergleiche. Man könnte genausogut vom Isaiah
Berlin Italiens oder von einem skeptischen italienischen Onkel
von Habermas oder Rawls sprechen, der zugleich ein Nachfolger
Croces und ein Kritiker des italienischen Idealismus war.
Kürzer: Norberto Bobbio war der Aufklärer der Italienischen
Republik.
Otto Kallscheuer