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10. Januar 2004, 02:11, Neue Zürcher Zeitung

Aufklärer der Italienischen Republik

Zum Tod des Rechtsphilosophen Norberto Bobbio

Auch ausserhalb Italiens genoss der Rechtsphilosoph und Senator auf Lebenszeit Norberto Bobbio mit zunehmendem Alter grosses Ansehen. Der liberale Sozialist und Menschenrechtstheoretiker, der auch im antifaschistischen Widerstand aktiv war, ist am 9. Januar im Alter von 94 Jahren in Turin gestorben.

«Nach einer Zeit, in der der Philosoph wie jeder andere die ihm teuersten Probleme beiseite lassen musste, um sich mitten in den Kampf zu begeben, muss er jetzt mit erhöhtem Ernst zu seinen spezifischen Problemen zurückkehren» - nun freilich «im tieferen Bewusstsein seiner eigenen Aufgabe und Verantwortung». Mit diesem Editorial eröffnete der junge Ordinarius für Rechtsphilosophie Norberto Bobbio 1946 den Nachkriegsjahrgang der «Rivista di filosofia». Als Bobbio 1935 in die Redaktion der Zeitschrift eingetreten war, war auch sein Briefwechsel mit dem verdeckten De-facto-Herausgeber Piero Martinetti - einem der elf Professoren Italiens, die 1931 den obligatorischen Treueid gegenüber dem Mussolini-Regime verweigert hatten - in die Hände der faschistischen Geheimpolizei gelangt. Bobbio wurde zum Verhör vorgeladen und kam mit einer Abmahnung davon, doch seine Universitätskarriere schien nunmehr administrativ blockiert. Dass sich der junge Privatdozent daraufhin in einem Bittschreiben an «Seine Exzellenz Cavaliere Benito Mussolini, Villa Torlonia» wandte (und auch ein hochrangiger Onkel für ihn beim Duce vorstellig wurde), ist der Fehltritt, den sich der alte Moralist Bobbio nie verzeihen konnte. Dieser Makel konnte verdrängt, aber nicht ungeschehen gemacht werden - gerade weil der Agnostiker Bobbio nicht an ein Verzeihen im Jenseits glauben mochte: «Die Diktatur korrumpiert die Seele der Personen, und das war - aus der Feder eines Intellektuellen aus bildungsbürgerlichem Hause - ein serviler Brief», gab er 1992 zu.

Nur aus dem Gefühl moralischer Pflicht wandte sich der 1909 als Sohn eines angesehenen Turiner Arztes geborene Bobbio dann in den vierziger Jahren dem antifaschistischen Kampf zu. Ein politischer Denker war er, kein politischer Aktivist, und stets fand er die theoretische Debatte weitaus spannender als die politische Aktion. Wie seine Frau Valeria Cova und wie zahlreiche seiner «liberalsozialistischen» Freunde war auch Bobbio nicht im gutbürgerlichen Elternhause, sondern im Turiner Gymnasium Massimo d'Azeglio antifaschistisch sozialisiert wurden.

Zweite Geburt

Die Resistenza hat Bobbio im Rückblick als seine «zweite Geburt» bezeichnet: die Geburt zum authentischen - nämlich öffentlichen - Leben. Seit 1935 hatte er der Turiner Widerstandsgruppe «Giustizia e Libertà» angehört und später (1943-1945) am Untergrundkampf des «Partito d'Azione» teilgenommen. Diese «typische Intellektuellenpartei» (Bobbio) stellte zwar 1945 mit Feruccio Parri den ersten Regierungschef des befreiten Italien, löste sich aber schon 1947 nach ihrer verheerenden Wahlniederlage wieder auf.

Sobald Faschismus und deutsche Besatzung abgeschüttelt waren, kehrte Bobbio ans philosophische Katheder zurück. Sein Leben, meinte er, sei uninteressant - das langweilige Dasein eines Hochschulprofessors. In Bobbios letzten Lebensjahren sollten freilich gerade seine persönlichen Schriften in die italienischen Bestsellerlisten kommen: «De senectute» (1996, dt. im Wagenbach- Verlag: «Vom Alter»), sein Lob der Sanftmut, «Elogio della mitezza» (1994), und seine Autobiographie (1997).

Von 1948 bis 1984 lehrte Bobbio an der Universität Turin. Seine Vorlesungen - und viele von ihnen wurden dann Bücher - atmen die Ernsthaftigkeit seiner Heimatstadt: der Stadt de Maistres und Cavours, Gramscis und Einaudis. Die erste Hauptstadt der italienischen Einigung, dann Hochburg von Industrie und Positivismus, der Arbeiterräte und des Liberalismus, verkörpert in Italiens kollektivem Gedächtnis immer noch die tragischen Konflikte, die methodische Würde und die uneingelösten Versprechungen der Moderne.

Vom publizistischen Einsatz für ein «Italien des Bürgersinns» - «Italia civile» (1964) - hat der Turiner Ordinarius nicht abgelassen. Seine gefürchteten Zeitungsartikel in der Turiner Tageszeitung «La Stampa» waren Lektionen im öffentlichen Vernunftgebrauch. Nach 1984 machte der Emeritus den Leitartikel zum Katheder. Und es waren gerade Bobbios eindeutige Definitionen und klare Distinktionen - zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Politik und Kultur, zwischen Liberalismus und Demokratie -, auf die sich auch sein unanfechtbares politisches Ansehen gründete.

In legendären Kontroversen - gesammelt in seinen Büchern «Politica e cultura» (1955) und «Quale socialismo?» (1977) - profilierte sich der linksliberale Philosoph zum intellektuellen Antipoden des italienischen Kommunismus. Auch deshalb wurde später Bobbios Fibel «Rechts und Links» (1994) zu einem Bestseller: Erstmals seit 1948 war der ethisch-politische Links-Rechts- Gegensatz nicht mehr von weltpolitischen Gegnerschaften überlagert.

In den fünfziger Jahren hatte Bobbio die bürgerlichen Freiheitsrechte und die liberale Demokratie des Westens gegen den marxistischen Vorwurf verteidigt, blosse kapitalistische Herrschaftsform zu sein. Dies bewahrte ihn nicht davor, auch die «Zukunft der Demokratie» (dt. 1988, Rotbuch-Verlag) mit realistischer Skepsis zu betrachten. Zugleich beharrte Bobbio stets - wie Benedetto Croce - auf der Freiheit der Kultur; auf der Freiheit des Intellektuellen gegenüber allen nationalen, religiösen oder parteipolitischen Ansinnen.

«Militante» Philosophie

Die ersten akademischen Veröffentlichungen Bobbios hatten sich mit Existenzialismus und Phänomenologie befasst. Nach dem Kriege beteiligte er sich dann - mit dem Turiner «Zentrum für methodologische Forschung» - am interdisziplinären Dialog zwischen analytischer Philosophie, den Sozial- und den Naturwissenschaften. Unter dem Einfluss der «Reinen Rechtslehre» Hans Kelsens und dann des Oxforder analytischen Rechtsphilosophen H. L. A. Hart wandte sich Bobbio schliesslich dem sogenannten Rechtspositivismus zu: einer logischen und soziologischen Analyse des Rechts als Wirklichkeitswissenschaft. Als engagierter Moralist stand Bobbio in der Tradition der Freiheitsideale der Aufklärung; als politischer und Rechtstheoretiker folgte er hingegen der realistischen soziologischen Tradition Gaetano Moscas und Vilfredo Paretos - «Saggi sulla scienza politica in Italia» (1969) - und natürlich der Soziologie Max Webers. Als Vorläufer beider Traditionen, auf den sowohl das rationalistische Naturrecht als auch die realistische Politikauffassung zurückgehen, sah er Thomas Hobbes.

Sein schönstes Buch - «Una filosofia militante» (1971) - widmete Bobbio dem empiristischen Aufklärer und föderalistischen Theoretiker des italienischen Risorgimento Carlo Cattaneo, der sich nach dem Scheitern des Mailänder Aufstands von 1848 in die Schweiz nach Lugano zurückzog. Cattaneos Interesse galt eher dem intellektuellen und industriellen Fortschritt als der politischen Aktion; in seiner berühmten Zeitschrift «Il Politecnico» widmete er sich «angewandten Forschungen zur sozialen Wohlfahrt und Kultur». Cattaneos wirklichkeitshungriger Empirismus erschien Bobbio als die «einzige Philosophie, so fragmentarisch und unsystematisch, wie auch immer man will, aus der wir im Kampf der Ideen gegen die alte (katholische) Scholastik und wider jene neue, nicht minder verletzende Scholastik der Linken, also wider die Integralisten der Kirche und die der (kommunistischen) Partei, Stärkung und Aufklärung zu ziehen vermochten».

Doch der programmatische Titel «Una filosofia militante» war zugleich Bobbios Antwort auf den Aktionismus der radikalen 68er Linken, mit welcher er, der Professor in der Fiat-Stadt Turin, einem der Zentren der Arbeiterkämpfe des italienischen «heissen Herbstes», heftige Konflikte hatte. Ähnlich wie Max Weber im Revolutionswinter 1919 für die «Wissenschaft als Beruf» sah jetzt Bobbio die wahre «Militanz» für die Philosophie - d. h. ihre ureigenste «politische Arbeit» - nicht in der Aktion, sondern in der Aufklärung: in der methodischen Analyse von politischen Institutionen und Doktrinen, von sozialen und Rechtsnormen.

Im «Times Literary Supplement» wurde Bobbio, der am 9. Januar im Alter von 94 Jahren in Turin gestorben ist, einmal «der italienische Aron» genannt. Aber natürlich hinken alle Vergleiche. Man könnte genausogut vom Isaiah Berlin Italiens oder von einem skeptischen italienischen Onkel von Habermas oder Rawls sprechen, der zugleich ein Nachfolger Croces und ein Kritiker des italienischen Idealismus war. Kürzer: Norberto Bobbio war der Aufklärer der Italienischen Republik.

Otto Kallscheuer

 

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