Georg-August-Universität Göttingen
STATIONEN DES PARTIKULARISMUS UND FÖDERALISMUS IN DEUTSCHLAND
Inhalt: I. Begriffliches. – II. Historische Entwicklungen. – 1. Mittelalter. – 2. Neuzeit.
– 3. Entwicklungen des Föderalismus. im 19.
Jahrhundert. – 4. Das föderative System der Weimarer
Republik. – III. Schlußbetrachtung.
– Ausgewählte Literatur.
Föderalismus, Partikularismus und
Regionalismus sind schillernde Begriffe, deren Wesensmerkmale sich nicht
präzise bestimmen lassen. Teils sind es gesellschaftliche, teils
geistig-kulturelle, teils politische aber besonders auch
staatlichverfassungsrechtliche Zustände und Verhältnisse, die mit ihnen
beschrieben werden sollen. Erschwerend kommt hinzu, daß diese Begriffe eine
jeweils von Land zu Land nuancierte Bedeutung haben. Es lassen sich daher nur
einige allgemeine Unterscheidungskriterien angeben.
Der Begriff des Regionalismus ist
hauptsachlich ein sozialökologischer Terminus. Die Region umfaßt ein nicht
zwingend an staatliche Grenzen gebundenes Gebiet, in dem die Bevölkerung durch gemeinsame
in ihrer Geschichte wurzelnde Merkmale geprägt ist. Regionalismus meint
folglich das Bestreben, diese Merkmale nach ihren Schwerpunkten wie Kultur,
Religion, Gesellschaft, Wirtschaft, Volkstum etc. zu bewahren und vor fremden -
meist gesamtstaatlichen - Einflüssen zu schützen. Die Regionen sind, wie
besonders in Frankreich (Départements), aber auch in Italien (Regioni) -
Gebietskörperschaften eines Einheitsstaates, denen die Eigenstaatlichkeit
fehlt. Neuerdings wird der Begriff der Region aber auch für den Zusammenschluß.
mehrerer europäischer Staaten zur Lösung wirtschaftlicher Probleme innerhalb
ihres Gebietes verwendet. Das gilt für die Europäischen Gemeinschaften und die
sie einschließende Europäische Union (EU).
Partikularismus ist ein meist abwertend
verwendetes Schlagwort für das Bestreben der Bewohner eines Teilgebietes im
Einheits- oder Bundesstaat auf Kosten des Gemeinwohls Sondervorteile zu
erlangen. Die entsprechenden Forderungen zielen i.d.R. auf Autonomie und
staatliche Dezentralisation. Im Einheitssaat werden sie von den Regionen und im
Bundesstaat von dessen Gliedstaaten - gelegentlich auch mit unlauteren Methoden
- verfolgt. Geht es um die völlige Abtrennung eines Gebietsteils aus dem
bisherigen Staatsgebilde, schlägt der Partikularismus in Separatismus um.
Vieldeutig ist der Begriff des
Föderalismus (lat. foedus,
Bund, Bündnis). Eines seiner Hauptmerkmale ist, daß er sich nur auf
Staatenverbindungen und nicht auf Einheitssaaten bezieht. Im übrigen steht er
einerseits für eine soziale, wirtschaftliche oder politisch-weltanschauliche
Gesinnung, die auf die Stärkung eines Einzelstaates zielt. Im Kern geht es um
Vielfältigkeit, d.h. um die Anerkennung politischer und kultureller
Verschiedenartigkeiten in einer Staatenverbindung. Andererseits beschreibt der
Föderalismus ein verfassungsrechtliches Struktur- und Organisationsprinzip.
Föderalistisch ist ein Staat organisiert, wenn er aus dem Zusammenschluß
mehrerer Gliedstaaten besteht. Dabei kann es sich um einen Staatenbund oder um
einen Bundesstaat handeln. In einem
Staatenbund (Staatenföderation) sind wie in den Vereinigten Staaten von
Nordamerika die Zwangsbefugnisse des Gesamtstaates gegenüber den Gliedstaaten
nur schwach entwickelt. Die Souveranität der Gliedstaaten bleibt weitgehend erhalten.
In einem Bundesstaat (Föderativstaat) hat der Gesamtstaat wie im Falle der
Bundesrepublik Deutschland die Entscheidungsgewalt in allen die Einheit und den
Bestand des Ganzen betreffenden Fragen. Im Gegensatz dazu steht der
Einheitsstaat, in dem nur eine einzige Staatsgewalt über das einheitliche
Staatsgebiet und das einheitliche Staatsvolk herrscht. Dazwischen gibt es eine
Fülle von Mischformen, so daß die Frage, ob es sich um eine Staatenföderation
oder um einen Föderativstaat handelt, nicht ohne weiteres zu entscheiden ist.
Im übrigen ist zwischen einem mehr
das einigende und einem mehr das trennende Element betonenden Föderalismus zu
unterscheiden. Überwiegt die Tendenz zur Einigung, spricht man von einem
unitarischen Föderalismus. Liegt der Schwerpunkt auf der Trennung, spricht man
von einem partikularistischen Föderalismus.
Lange beruhte der Föderalismus. ganz überwiegend auf historisch gewachsenen Grundlagen kultureller, politischer, sozialer und wirtschaftlicher Eigenheiten. Als tragende Kraft setzen sich heute zunehmend aber auch rein wirtschaftlich-utilitaristische und funktionale Beweggründe durch. Beispielhaft sind wiederum die Europäischen Gemeinschaften, die teils als Regionen, teils aber auch als «überstaatliche Föderationen» bezeichnet werden (P. Badura).
Insgesamt ist der Föderalismus - so
der treffende der Titel eines Buches des politischen Schriftstellers Constantin
Frantz (1817-1891) - das «Leitende Prinzip für die soziale, staatliche und
internationale Organisation» (1879).
Die Wurzeln des deutschen
Föderalismus. liegen paradoxerweise in einem bis tief in das Mittelalter
zurückreichenden Partikularismus. Spätestens seit dem Ende des
Karolingerreiches wird die deutsche Verfassungsgeschichte nämlich einerseits
bestimmt durch die Anstrengungen der deutschen Herrscher um den Ausbau und den
Erhalt einer im wesentlichen auf Lehensrecht beruhenden kaiserlichen
Zentralgewalt und andererseits durch die nach Selbständigkeit strebenden
lehensrechtlich gebundenen Fürsten.
a. Confoederatio cum
principibus ecclesiasticis und Statutum in favorem principum.
Den deutschen Kaiser sind nur
zeitweise, dem Ziel eines einheitlichen Lehensstaats mit monarchischer Spitze
näher gekommen. Die vermutlich geheime Absicht Kaiser Friedrichs II., den mittelalterlichen
Lehensstaat nach dem Vorbild seines Erbreichs Sizilien zu einem modernen
absolutistisch regierten Macht- und Beamtenstaat mit einheitlicher Verwaltung,
Gerichtsbarkeit und Steuerpolitik umzubilden, scheiterte an den
Partikulargewalten.
Zur Behauptung ihrer
Autonomieansprüche verbündeten sich einige von ihnen gegen den Kaiser. Sie
konnten ihm schließlich wichtige Privilegien abringen, die fortan ein
entscheidendes Fundament für die Entwicklung des deutschen Partikularismus
bildeten. Es handelt sich um die sog. confoederatio cum principibus
ecclesiasticis vom 26. April 1220 und das Statutum in favorem principum aus
dem Jahre 1231. Mit diesen Fürstenprivilegien hat nach einer älteren Auffassung
die kaiserliche Zentralgewalt unwiderruflich wichtige Hoheitsrechte der Krone
den Fürsten preisgegeben und damit den Anfang der fürstlichen Landeshoheit
begründet.
Auch wenn nach einer neueren
Ansicht die Fürstenprivilegien nicht erst die Landeshoheit geschaffen, sondern
lediglich die bereits bestehenden Verhältnisse legalisiert haben, zeigen diese
uns doch im Ergebnis das bereits im 13. Jahrhundert bestehende Ausmaß des Partikularismus. So enthalten die
Fürstenprivilegien u. a. einen weitgehenden Verzicht des Konig-/Kaisertums auf
die Ausübung der Hoheitsrechte über Gericht, Geleit, Münze und Zoll, Burgen-
und Städtebau im Gebiet der damals schon als domini terrae bezeichneten
fürstlichen "Landesherrn".
b. Goldene Bulle v. 1356.
Das nächste hervorzuhebende Ereignis
in der deutschen Partikularismusentwicklung war die unter Kaiser Karl IV.
ergangene Goldene Bulle von 1356. Dort wurden den Kurfürsten die sog. privilegia
de non appellando et de non evocando eingeräumt. Der Rechtsweg
landesherrlicher Untertanen an den Kaiser war damit - ausgenommen in Fällen von
iustitia negata et protracta - ausgeschlossen. Der Kaiser verzichtete
Föderalismus auf sein Recht, Prozesse, die an den Gerichten der Landesherren
schwebten, zur Entscheidung an sein Hofgericht zu ziehen. Die Kurfürsten
erlangten auf diese Weise eine eigenständige vom Kaiser weitgehend unabhängige
Justizhoheit, die sie alsbald dazu nutzten, um einen Gerichtsaufbau mit einem
höchsten Landesgericht und Instanzenzügen in ihren Territorien zu organisieren.
Darüber hinaus erklärte die Goldenen Bulle die großen Fürstentümer für
unteilbar und legte die Primogeniturerbefolge fest.
c. Reformvorschläge des NICOLAUS v. CUES.
Mit diesen Privilegien hatten die
Partikularbestrebungen der deutschen Kurfürsten einen vorläufigen Höhepunkt,
aber bei weitem noch nicht ihr Ende erreicht. Der bekannte Kardinal NICOLAUS V.
CUES (1401-1464) sah daher in seiner Schrift De concordantia catholica (1433)
die Gefahr, daß das Reich durch den fortschreitenden Partikularismus
auseinanderbrechen und ganz Deutschland «einer anderen Nation unterworfen»
werden könne.
Seine Reformvorschläge, die u.a.
eine alljährlich stattfindende Reichsversammlung, eine Neuordnung der
Gerichtsbarkeit und die Aufstellung eines stehenden Reichsheeres vorsahen, blieben
unerfüllt. Die mittelalterliche Verfassungsgeschichte bewegte sich weiterhin im
Spannungsfeld zwischen Reich und Territorien, zwischen Einheitsgedanke und
Partikularismus.
a. Reichsreformen: Ewiger Landfriede, Reichskammergericht, Reichssteuer, Reichsregiment, Wahlkapitulation.
Schon am Ende des 15. Jahrhunderts
war das Reich nach innen und außen politisch kaum noch handlungsfähig. Es hatte
keine festen Grenzen, keine eigenen Truppen, keine gegen den Willen der
Reichsstände durchsetzbare Exekutiv-, Legislativ- und Jurisdiktionsgewalt. Um
Frieden und Recht im Reich zu sichern, bedurfte es daher einer
Verfassungsreform, die einerseits Autonomie und Mitwirkungsrechte der
Reichsstände sicherte sowie andererseits die kaiserliche Zentralgewalt nicht
zerstörte. Dieses Ziel sollte 1495 unter MAXIMILIAN I. (1493 - 1519) mit einer
gegenseitigen Verpflichtung zwischen Reichsständen und Kaiser, also auf
föderativem Wege erreicht werden. Es wurden einige reichsrechtliche
Institutionen beschlossen, die über alle Partikularinteressen hinweg Stabilität
und Handlungsfähigkeit des Reiches gewährleisten sollten. Dazu gehörten in
erster Linie der sog. "Ewige Landfriede" und das Reichskammergericht
(RKG) sowie eine auf vier Jahre begrenzte Reichssteuer (Gemeiner Pfennig).
Die Reformen gingen eindeutig zu
Lasten der Zentralgewalt. So war das RKG ein von Kaiser unabhängiges und nicht
an seinem Hoftagendes Gericht, über dessen Besetzung nicht mehr der Kaiser
allein, sondern die Reichsstände federführend bestimmten. Wenige Jahre später
sollte die Zentralgewalt außerdem durch das sog. Reichsregiment weiter
beschränkt werden. Gedacht war an ein mit dem Kaiser und den Reichsständen
kollegial besetztes Regierungsorgan, das anstelle des schwerfälligen
Reichstages über alle und jede unsere als Römischen König und des heiligen
Reiches Sachen, Recht (und) Fried.. rathschlagen und endlich beschließen sollte.
Dieses Vorhaben scheiterte jedoch nicht nur am Widerstand der Krone, sondern
auch an den Reichsständen, denen es bei fast allen Reformen weniger um
Mitbestimmung in Reichsangelegenheiten, sondern um ihre Autonomieinteressen
gegangen war. Auch die Erhebung des Gemeinen Pfennigs fiel letztlich diesen
Interessen zum Opfer.
Immerhin hatte das RKG eine letzte
Klammer sein können, um das Reich als politische Einheit zu bewahren. Aber auch
diese Möglichkeit wurde vereitelt. Zum einen erfuhr das RKG nicht die
notwendige finanzielle Unterstützung durch die Reichsstände: Zum anderen
schränkte Karl V. (1519-1556) den Aktionsradius des RKG ein, indem er um 1550
in Wien den Reichshoftat (RHR) ins Leben rief, der fortan als kaiserliches
Gericht mit dem RKG konkurrierte. Die Tatsache, daß es nun ein höchstes Gericht
des Kaisers und ein solches der Reichsstände gab, zeigt anschaulich das
Spannungsverhältnis zwischen Zentralgewalt und Partikularmächten.
Auf das ganze gesehen, war die
Zentralgewalt durch die Reformen eher geschwächt als gestärkt worden. Hinzukam,
daß seit 1519 ein designierter deutscher Kaiser überhaupt nur dann eine Chance
hatte, gewählt zu werden, wenn er den Kurfürsten in einer sog. Wahlkapitulation
förmliche Zusagen machte, die ganz überwiegend partikulare Interessen zum
Inhalt hatten.
Dennoch war die Existenz des
Reiches noch nicht gefährdet, weil sich die Reichsstände, sei es in kleineren
oder größeren Gruppen, sei es mit oder ohne den Kaiser, sei es auf Zeit oder
auf Dauer, immer wieder zu Aktionsgemeinschaften (Verein der Kurfürsten,
Einungen, Ritter- und Städtebündnisse etc.) zusammenschlossen und - wie die
regionalen und überregionalen Landfrieden zeigen - mit ihren Partikular-
zugleich auch Reichsinteressen wahrnahmen. Auch wenn es wegen der zum Teil
krassen Machtunterschiede kleiner, mittlerer und großer Territorien nicht
gelingen konnte, das Reich einheitlich bündisch zu organisieren, so entwickelte
sich spätestens jetzt eine föderative Praxis, die das Reich vor einem
endgültigen Auseinanderfallen bewahrte.
b. Reichskreise als föderative Lösung.
Noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurden daher von
Kaiser und Reichsständen die sog. Reichskreise verabredet. Das Reich wurde 1512
zunächst in 10 und später in weitere Reichskreise eingeteilt. Aufgabe der
Reichskreise sollte sein, den Frieden im Reich zu wahren und zu sichern, das
Reichsheerwesen zu unterstützen, gegen das Verbrechertum vorzugehen, das
Gesundheits- und Münzwesen zu organisieren und später auf der Grundlage der
1555 beschlossenen Reichsexekutionsordnung die Urteile der beiden
Reichsgerichte, also des RHR und des RKG zu vollstrecken.
Zwar hatten die Kreise dem Reichsrecht zu dienen. Als Selbstverwaltungskörper der Reichsstände waren sie zugleich aber auch ein geeignetes Instrument zur Durchsetzung von Partikularinteressen. Wiederholt schlossen sich daher einzelne Kreise zu sog. Kreisassoziationen zusammen. Von hier aus betrieben die Reichsstände eine nicht selten gegen den Kaiser gerichtete Politik. Ihren Verpflichtungen gegenüber dem Reich kamen sie insoweit nur halbherzig nach. Der Dualismus zwischen Zentral- und Partikulargewalt blockierte weiterhin eine wirksame Reichspolitik.
c. Westfälischer Friedensvertrag.
Mit der Reformation und
Gegenreformation sowie mit der konfessionellen Spaltung der Reichsstände in ein
corpus catholicarum und ein gegen den Kaiser gerichtetes corpus
evangelicorum verloren die Reichskreise im Laufe des Dreißigjährigen
Krieges zunächst ihre Bedeutung.
Maßgebend wurde für die
Verfassungsstruktur des Reiches stattdessen der Westfälische Friedensvertrag
von 1648. Er verschaffte den Reichsständen nicht nur die Landeshoheit (ius
territorii et superioritatis, IPO Art. V § 30), sondern auch das Recht, mit
auswärtigen Staaten Bündnisse abzuschliefien (jus foederum, Art. 8 §2).
und die Befugnis zur selbständigen Entscheidung über Krieg und Frieden (jus
belli ac pacis). Damit hatten die Reichstände nahezu
uneingeschränkte Souveränitätsrechte über ihre Territorien erlangt. Ihre
Staaten wurden zu Volkerrechtssubjekten.
d. Assoziation der Vorderen Reichskreise.
Nach alledem fragt man sich, ob es
bei den Selbständigkeitsbestrebungen der Territorialherren nicht bereits um
Separatismus ging. Versuchten sie nicht ohne jede Rücksicht auf den Bestand des
Reiches ihre Einzel- und Sonderinteressen durchzusetzen, nur um sich eines
Tages gänzlich aus dem Reichsverband zu lösen?
Die Antwort lautet: nein. Das Reich
als einheitliches Dach sollte nicht zerstört werden. Die Territorialherren
hielten daher am Bestand des Reiches fest. Es ging ihnen um die securitas
imperii et conservatio status praesentis... sub Auspicies Caesaris. Gelegentlich
entsteht der Eindruck, als hätten sie das Reich gegen eine absolutistische
Machterweiterung der kaiserlichen Zentralinstanz verteidigen wollen. Sie
griffen daher auch nach dem Westfälischen Friedensvertrag auf die seit dem
Mittelalter bewährte Bündnis- und Einungspolitik zurück. Noch 1696 schlossen
sich der kurhessische, der fränkische, der bayerische, der schwäbische und der
westfälische Kreis zur Assoziation der "Vorderen Reichskreise"
zusammen. Erneut zeigte sich hier das Zusammenspiel von Föderalismus. und Partikularismus,
mit dem die Auflösung des Reiches verhindert werden sollte.
e. Die Beurteilung der
Reichsverfassung durch SAMUEL v.
PUFENDORF: De statu imperii Germanici (1667).
Dennoch war das Reich als politisch
einheitliches Gebilde schon am Ende des 17. Jahrhunderts nur noch ein Torso.
Deutschland sei, so schrieb der Natur- und Völkerrechtler SAMUEL von PUFENDORF
(1632-1694) in seinem 1667 erschienenen Werk De statu Imperii Germanici (Kap.
VI § 9; VIII § 4), durch den Leichtsinn der Kaiser und durch den Ehrgeiz der
Fürsten in ein unregelmäßiges, einem Monstrum ähnliches Gebilde (corpus
irregulare monstro simile) umgewandelt worden, das nach den Kategorien
aristotelischer Staatsformen nicht mehr eingeordnet werden könne. Es fehlte
daher nicht an theoretischen Versuchen, das Reich staatsrechtlich als res
publica mixta mit einer duplex potestas civilis (S. v. PUFENDORF)
oder als ein Gebilde zu beschreiben, das aus einer res publica superior und den respublicae inferiores bestand
(L. HUGO).
Als praktische Lösung empfahl
Pufendorf, das Heilige Römische Reich deutscher Nation zu einem föderativen
Bundesstaat umzuformen. Auch GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ (1646-1716) hatte schon
vor PUFENDORF 1670 einen Plan entwickelt, das Reich als Staatenbund neu zu
organisieren. Die Realisierung eines solchen Vorhabens hatte jedoch keine
Chance. Dazu hätte es weitgehend gleichstarker und homogener Gliedstaaten und
deren Bereitschaft bedurft, ihre Sonderinteressen zum Wohle des Ganzen zurückzustellen.
Unterdessen blieb das Verhältnis
zwischen Zentral- und Partikulargewalt weiterhin gespannt. Als die Reichsstände
wieder einmal Kritik am RHR übten, ließ ihnen der Kaiser am 27. August 1712
eine Antwort übermitteln, in der diese Lage anschaulich zum Ausdruck kommt.
Dort heißt es u.a., daß die Reichsstände mit einer Menge fadenscheiniger Gründe
supremam potestatem caesaream jus dicendi in Frage stellen wollten.
Solche Ziele verfolgten sie bereits seit den Zeiten Kaiser MAXIMILIANS I.
Damals hätten sie sogar durch das sogenannte reichsregiment versucht,
dem Kaiser die politische Herrschaft zu entwinden. Daran werde auch jetzt noch mit
ohnauffhörlicher arglistigkeit ... gearbeitet. Letztlich gehe es den
Ständen darum, mit dem RHR zugleich auch die kaiserliche Machtvollkommenheit wo
nicht völlig außzulöschen, [so] doch zu verdunckeln.
Als sich die Gegensätze zwischen
den beiden mächtigsten Gliedstaaten Preußen und Österreich verschärften, wurde
dem Reich fast jede Wirkungskraft entzogen. Mit der Eroberungspolitik Napoleons
zeichnete sich das Ende des Reiches ab.
a. Wiener Kongreß und Liberalismus.
Nach den Napoleonischen Siegen über
Preußen und Österreich brach das Heilige Römische Reich endgültig zusammen. Am
6. August l806 legte Kaiser FRANZ II. die Kaiserkrone nieder und löste die noch
bestehenden Reichsinstitutionen auf. Es folgten die sog. Befreiungskriege, die
1813 mit einer Niederlage Napoleons endeten.
Auf dem Wiener Kongreß von 1815
sollte Deutschland neu geordnet werden. Schon wegen der Ansprüche auf
staatliche Selbständigkeit der beiden rivalisierenden Länder Preußen und
Österreich, kam ein Reich mit einer einheitlichen Zentralgewalt nicht in
Betracht. Hinzukam, daß das Ziel des Wiener Kongresses die Wiederherstellung
der alten Ordnung und die Zurückdrängung der neuen freiheitlichen Bewegung war,
die einen zwar föderativ strukturierten, aber einheitlichen Nationalstaat
wünschte. Letztlich ging es auf dem Kongreß in Wien unter der Federführung des
restaurativ gesinnten österreichischen Staatskanzlers Fürst K. METTERNICH um
dynastische Legitimität, territoriale Souveranität sowie eine föderativ
staatenbündische Ordnung gegen die liberale, die demokratische und die
nationale Bewegung (Th. NIPPERDEY). Man knüpfte daher an die
Partikularismusentwicldung des untergegangenen Reiches an.
Das Ergebnis des Wiener Kongresses
war ein Staatenbund, der aus den «souverainen Fürsten und freien Städten» Deutschlands
bestand (Art. 1 der Wiener Schlußakte von 1820). Zweck des Bundes war die
«Erhaltung der außeren und inneren Sicherheit Deutschlands und der
Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten» (Art. 2
Deutsche Bundesakte).
An der Spitze stand die
Bundesversammlung mit Sitz in Frankfurt am Main (Art. 4 Deutsche Bundesakte),
ein schwerfällig arbeitender Gesandtenkongreß, der kein nennenswertes
politisches Gewicht hatte. Der Bund hatte keine übergreifenden Kompetenzen für
Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung. Er war daher ein
«völkerrechtlicher Verein» (Art. 1 Wiener Schlußakte) fast ohne jede
Zentralgewalt. Dementsprechend entfaltete er auch in der Praxis keine
Initiativen, um die in Deutschland drängenden Vereinheitlichungsprobleme auf
den Gebieten des Rechts und der Wirtschaft zu regeln. Selbst die Anstrengungen
für eine gemeinsame militärische Verteidigung, die nach der
Bundeskriegsverfassung durch ein Bundesheer zu erfolgen hatte, blieben schwach.
Insgesamt ist der Deutsche Bund von
1815 ein typisches Beispiel für einen partikularistisch-föderalistisch
organisierten Staatenbund; allerdings mit der Besonderheit, daß die beiden
europäischen Großmächte Österreich und Preußen die bestimmenden Kräfte des
Bundes waren.
Mit dem Deutschen Bund, der den Status
qua ante symbolisierte, waren die Hoffnungen der bürgerlich-liberalen
Bewegung enttäuscht worden. Ihre Ziele, den Deutschen Bund in einen föderativen
nationalen Bundesstaat Prägung umzuformen, wurden zwar in der Verfassung der
Frankfurter Paulskirche von 1848/9 festgelegt. Sie konnten aber politisch nicht
umgesetzt werden, weil es an der notwendigen Zentralgewalt fehlte. Der Deutsche
Bund zerbrach jedoch, nachdem 1866 Preußen Österreich bei Königgräz besiegt
hatte. Wiederum wurde der Weg für eine Neuordnung Deutschlands frei, diesmal
ohne die Einbeziehung Österreichs.
b. Die Reichsgründung von 1871.
Der erste Schritt war der
Norddeutsche Bund, ein unter der Führung Preußens und seines Kanzlers OTTO v.
BISMARCK geschaffener Bundesstaat von 17 norddeutschen Kleinstaaten, dessen
Verfassung die Grundlage für die Reichsverfassung (RV) vom 16. April 1871
bildete.
Im Vorspruch dieser Verfassung wird
das Deutsche Reich zwar als "Ewiger Bund" bezeichnet. Dennoch
handelte es sich diesmal nicht um einen aus souveränen Einzeltstaaten
bestehenden Staatenbund, sondern um einen Bundesstaat. Der neue Staat war eine
konstitutionelle Monarchie, in der auf kunstvolle Weise «die national-
unitarischen, die föderativen, die hegemonialen, die liberalen und die
obrigkeitlich- antiparlamentarischen Prinzipien» (Th. NIPPERDEY) vereinigt
waren. Insgesamt beruhte diese Monarchie auf der Koordination von
«volksgewählter Legislative und monarchischer Exekutive, auf der Verbindung des
Repräsentativsystems mit dem monarchischen Grundsatz» (A. Laufs).
Die hier besonders interessierenden
föderativen Prinzipien waren durch weitgehende Autonomierechte der Gliedstaaten
aufweiten Gebieten des Verfassungsrechts, der Justiz, der Steuer, der inneren
Verwaltung, des Unterrichtswesens, der Wissenschafts- und Kunstpflege sowie der
Landeskultur verwirklicht. Außerdem hatten die im Bundesrat organisierten
Gliedstaaten das Recht, an der Gesetzgebung zusammen mit der im Reichstag
repräsentierten Volksvertretung mitzuwirken. Die Übereinstimmung der
Mehrheitsbeschlüsse beider Gremien war Voraussetzung für das wirksame
Zustandekommen eines Reichsgesetzes (Art. 5 I RV). Ohne den Konsens des
Bundestages war folglich das Reich gesetzgebungsunfähig.
Dem hegemonialen Prinzip war u.a.
dadurch Rechnung getragen worden, daß Preußen in der Person des Reichskanzlers
BISMARCK im Bundesrat den Vorsitz und die Geschäfte führte (Art. 15 I RV).
Preußen dominierte darüber hinaus als stärkster Einzelstaat durch seine
machtpolitische Überlegenheit. Diese kam bereits in seiner Stimmenzahl zum
Ausdruck. Während Bayern beispielsweise nur über 6 und Sachsen nur über 4
Stimmen verfügte, hatte Preußen 17 Stimmen (Art. 6 RV). Auch wenn Preußen damit
nicht über die. Mehrheit verfügte, kam doch de facto ohne die Einwilligung
Preußens keine Entscheidung zustande. Die hegemoniale Stellung Preußens kam
nicht zuletzt in den Doppelstellungen des Kaisers und des Kanzlers zum
Ausdruck. So war der preußische König zugleich Deutscher Kaiser und der
preußische Ministerpräsident zugleich der Reichskanzler. Reichsämter und
preußische Ämter waren also miteinander verzahnt. Insoweit hat man es - wie
schon die zeitgenossische Staatsrechtlehre richtig erkannte - mit einem
"hegemonialen Föderalismus". zu tun. Manche haben hierin sogar einen
Idealtyp föderativer Gestaltung gesehen. Denn allein der "hegemoniale
Föderalismus", werde der lebendigen Wirklichkeit gerecht und könne
dauerhafter einen Bund erhalten als ein föderatives System, das aus
gleichstarken und daher leicht auseinanderstrebenden Partnern besteht.
Der Föderalismus. des zweiten
deutschen Reiches «verband relative Autonomie und Mitbestimmung der
Gliedstaaten und die preußische Hegemonie mit den Elementen der
bundesstaatlichen Einheit» (TH. NIPPERDEY). Er war auf das ganze gesehen recht
erfolgreich, weil sich die Gliedstaaten mit dem neuen System schnell
anfreundeten und nicht - wie in früheren Zeiten - die Gesetzesinitiativen des
Reiches durch ihre Partikularinteressen von vornherein blockierten. Auf diese
Weise konnten die großen deutschen Kodifikationen auf den Gebieten des
Strafrechts, des Zivilrechts, des Prozeßrechts, aber auch des Arbeits- und
Sozialrechts entstehen, die fortan zu den integrierenden Bestandteilen des
Reiches gehörten.
Als Deutschland 1918 den 1.
Weltkrieg verloren hatte, ging auch das Kaiserreich unter. Ihm folgte
bekanntlich die Weimarer Republik.
Gegenstand der langwierigen
Vorarbeiten zu der am 11. August 1919 verkündeten Weimarer Reichsverfassung
(WRV) war auch das Verhältnis zwischen Reich und Ländern. Der hegemoniale
Föderalismus Preußen s sollte beseitigt werden. Stattdessen war ein
demokratischer "Volksstaat" gewollt, in dem sich zentralistische und
föderalistische Kräfte ausgleichen sollten. Tatsächlich wurde jedoch eine
Stärkung der Zentralgewalt zu Lasten der Einzelstaaten, also ein
unitarisch-föderalistischer Bundesstaat angestrebt. Die entsprechenden, auf den
Staatsrechtslehrer HUGO PREUß (1860-1925) zurückgehenden Vorschläge, stießen jedoch
auf den Widerspruch vor allem der süddeutschen Staaten.
Das Ergebnis von Weimar war gleichwohl im Vergleich zum Reich von 1871 ein unitarisierter Bundesstaat. Bereits in der Tatsache, daß jetzt das Vertretungsorgan der Länder nicht mehr Bundes-, sondern Reichsrat und die einstigen "Bundesstaaten" Länder heißen sollten (Art. 60 ff. WRV), kam dieses Veränderung zum Ausdruck. Die Autonomierechte der Länder wurden in der Tat nicht unerheblich beschnitten. Ihre bisher umfänglichen Gesetzgebungskompetenzen wurden zugunsten des Reiches verschoben (Art. 6 ff WRV) und ihre Mitwirkungsrechte an der zentralen Willensbildung im Reichsrat eingeschränkt. Gegen die vom Reichstag beschlossenen Gesetze hatte der Reichsrat zwar ein Einspruchsrecht. Diese Recht konnte aber vom Reichstag mit einer Zweidrittelmehrheit überstimmt werden (Art. 74 WRV). Die einst führende Rolle Preußens wurde beseitigt. Seine Stimmen im Reichsrat wurden auf zwei Fünftel aller Stimmen begrenzt (Art. 61 I WRV). Und natürlich wurden auch die einstigen, die preußische Reichsmacht stärkenden Doppelfunktionen des Reichsoberhaupts und des Reichskanzlers eliminiert. Damit war an die Stelle eines obrigkeitlich-konstitutionellen Partikularföderalismus ein demokratisch-unitarischer Föderalismus getreten.
Eine äußerst wichtige und, wie sich
später zeigen sollte, verhängnisvolle zentralistische Regelung erfuhr die
Anwendung der Reichsexekution. Während diese nach Verfassung von 1871 nur im
Zusammenwirken von Kaiser und Bundesrat ausgeübt werden konnte (Art. 19 RV),
blieb sie in der WRV allein der Entscheidung des Reichspräsidenten überlassen.
Nach Art. 48 Abs. 2 WRV
konnte folglich der Reichspräsident, «wenn im deutschen Reich die öffentliche
Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet» war, «die zur Wiederherstellung der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen» und
erforderlichenfalls «mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten». Mit dieser
Vorschrift wurde die "Diktaturgewalt" des Reichspräsidenten
begründet, den man, als er zeitweise nur. noch gestützt, auf Art. 48 WRV mit
Notverordnungen regierte, spöttisch auch "Ersatzkaiser" nannte.
Als die WRV 1924 einer Revision
unterzogen werden sollte, erhob die bayerische Staatsregierung in einer
Denkschrift nochmals ihre Stimme gegen den Zentralismus und Unitarismus. Sie
erklärte u.a., daß die Einzelstaaten durch diese Gewichtsverschiebung «an
Lebenskraft mehr eingebüßt» hatten «als das Reich gewonnen» habe. Alle
Erfahrungen der letzten Jahre zeigten, «daß das Reich nicht gesunden» könne,
«wenn ihm die Gesundung nicht von den Einzelstaaten her zuteil» würde. Weil die
Menschen in den Einzelstaaten eine unmittelbare Beziehung zur Politik hatten,
seien hier «die Bedingungen für eine gedeihliche Entwicklung von Staat und Volk
viel mehr gegeben als im Reiche». Insgesamt werde «der unitaristische
Zentralismus der Weimarer Verfassung ... dem historischen deutschen
Nationalstaatsgedanken, der auf dem starken Selbstgefühle der Einzelstaaten»
fuße und aus diesem heraus «zum Ganzen» strebe, nicht gerecht.
Man mag diese Kritik mit dem
Argument beiseite schieben, Bayern habe sich nur eine partikularistische
Sonderstellung - besonders gegenüber Preußen - verschaffen wollen. Tatsache ist
jedenfalls, daß die zentralistischen Tendenzen der WRV nicht unwesentlich dazu
beigetragen haben, dem Föderalismus. in Deutschland ein Ende zu bereiten. Am
20. Juli 1932 setzte der Reichskanzler FRANZ v. PAPEN mit einer auf Art. 48 WRV gestützten
Vollmacht des Reichspräsidenten das ihm im Wege stehende sozialdemokratische
preußische Minderheitskabinett ab. Er übernahm als Reichskommissar selbst die
Regierung in Preußen. Der Staatsgerichtshof erklärte in seiner Entscheidung vom
25. Oktober 1932 diese Maßnahme für rechtens. Damit war dem deutschen
Föderalismus ein schwerer Schlag versetzt worden.
Als die Nationalsozialisten den
diktatorischen Einheitsstaat proklamierten, fehlte dem deutschen Föderalismus
die Kraft, dieses Vorhaben zu verhindern. Dabei muß offen bleiben, ob ein mehr
partikularistisch strukturierter Föderalismus den Plänen der
Nationalsozialisten mehr Widerstand entgegengesetzt hätte. Tatsache ist
jedenfalls, daß mit dem «Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich»
vom 31. März 1933 und mit dem «Gesetz über dem Neubau des Reiches» vom 30.
Januar 1934 der Föderalismus. in Deutschland sein vorläufiges Ende gefunden
hatte.
Wie gezeigt, ist die deutsche
Verfassungsgeschichte beginnend vom mittelalterlichen Ständestaat über die
konstitutionelle Monarchie zur parlamentarischen Republik nachhaltig durch
Partikularismus und Föderalismus. bestimmt worden. Dabei haben sich sehr
unterschiedliche Formen des Föderalismus. entwickelt.
Die Frage, ob der unitarische oder
partikularische, ja, vielleicht sogar der hegemoniale Föderalismus, den Vorzug
verdient, läßt sich nicht ohne weiteres beantworten. Hier gibt es keinen
absoluten und zeitlosen Maßstab. Darüber, wie am besten das Gleichgewicht
zwischen Zentral- und Partikulargewalt hergestellt werden kann, entscheiden die
jeweils in einer historischen Situation gegebenen politischen Bedingungen. .
Eine der wichtigsten Fragen einer
föderativen Staatsverfassung bleibt jedoch, «ob und wann die Zentralgewalt
berechtigt, ja verpflichtet ist, von oben herab direkt in den Kompetenzbereich
der Einzelstaaten einzugreifen» (E. v. PUTTKAMER). Sicherlich kann mit einer
solchen Befugnis im Ernstfalle der föderative Charakter eines Staates bewahrt
werden. Wie besonders die Weimarer Verhältnisse zeigen, ist aber auch ein
Mißbrauch der Zentralgewalt nicht ausgeschlossen. Es kommt daher entscheidend
darauf an, sie so zu regeln, daß durch ihren Einsatz das föderative Gebilde in
seinem Kern nicht zerstört werden kann.
Die Bundesrepublik Deutschland hat
sich nach dem Ende des 2. Weltkrieges mit Unterstützung der westalliierten
Besatzungsmächte anders als der Einheitssaat der Deutschen Demokratischen
Republik (DDR) wiederum für eine föderalistisches Staatssystem entschieden,
zugleich aber auch die Konsequenzen aus ihrer Geschichte gezogen. Ihr
Grundgesetz vom 23. Mai 1949 (GG) kennt kein Notverordnungsrecht mehr. Auch die
1968 in das GG eingefügte sog. "Notstandsgesetzgebung" verleiht der
Zentralgewalt keine dem Art. 48 WRV vergleichbaren Befugnisse. Außerdem ist
eine Änderung des GG, «durch welche die Gliederung des Bundes in Länder» und
«die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung berührt werden»,
unzulässig (Art. 79 III GG).
Und schließlich sind Zwangsmaßnahmen der Bundesregierung gegen ein Bundesland
nur mit Zustimmung des Bundesrates zulässig (Art. 37 GG).
Im übrigen ist der unitarische
Föderalismus. von Weimar einem mehr partikularistischen Föderalismus. gewichen.
Auch wenn die Kompetenzen der ausschließlichen und konkurrierenden
Bundesgesetzgebung (Art. 70 ff. GG) diejenigen der Länder bei weitem überwiegen,
bleibt diesen doch ein beträchtlicher Spielraum zu einer eigenständigen
gesetzgeberischen Gestaltung. Darüber hinaus sind dem Bundesrat hinreichende
und institutionell abgesicherte Mitwirkungsrechte (Art. 79 III GG) an der Gesetzgebung des Bundes eingeräumt worden
(Art. 50, 77 ff. GG).
Obwohl sich in der Praxis seit 1949
die Gesetzgebung immer mehr auf den Bund verlagert hat, ist das politische
Gewicht der Länder nicht geringer geworden. Gerade weil der Bund seine
Gesetzgebungskompetenzen extensiv nutzt, machen die Länder im Bundesrat von
ihren Mitwirkungsrechten stärkeren Gebrauch. Sie setzen sie vor allem ein, wenn
im Parlament andere Mehrheitsverhältnisse als im Bundesrat herrschen. In diesem
Falle geht es den Ländern häufig nicht mehr nur um ihre spezifischen
Sonderinteressen, sondern um politische Opposition gegen Regierung und
Parlament. Das fuhrt dazu, daß wichtige, von der Regierung für dringend
notwendig gehaltene Gesetzesvorhaben durch den Bundesrat blockiert werden. Die
politische Handlungsfähigkeit der Regierung wird damit erheblich eingeschränkt.
Vor diesem Hintergrund kommt es in
Deutschland immer wieder zu Föderalismus Diskussionen, indenen es um die
"Macht des Bundesrates" geht. Die Regierung behauptet, die Opposition
mißbrauche ihre Mehrheit im Bundesrat als "Waffe im Kampf um die
Macht". Sie mache den Bundesrat zu einer "Gegenregierung". Der
Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof hat eingewandt, daß die
Mitwirkungsrechte des Bundesrates an der Gesetzgebung überwiegend nur im
Interesse der Länder und nicht im Bundesinteresse ausgeübt werden dürften.
Andere sehen die Gefahr, daß die Bundesrepublik Deutschland unregierbar werden
könnte. Befürchtet werden außerdem Schwächen der Bundesrepublik in einem
zukünftigen vereinten Europa. Es Wird nach alledem überlegt, ob man nicht die
Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung des Bundes "tendenziell"
zurückzunehmen und die Bundesstaatlichkeit stärken solle.
Demgegenüber gibt es - auch aus den
Reihen der Regierung - gewichtige Stimmen, die an dem bisherigen föderalistisch
strukturierten Gesetzgebungsverfahren grundsätzlich festhalten wollen. Ihrer
Ansicht nach bewirkt die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund
und Ländern eine notwendige "Gewaltenbalance", die das herkömmliche
Gewaltenteilungsprinzip zwischen Legislative, Exekutive und Jurisdiktion
sinnvoll ergänzt. Das Prinzip von checks and balances werde auf diese
Weise gewährleistet. Sie weisen außerdem daraufhin, daß nach der Statistik
bisher überhaupt nur ein Prozent der Gesetzesvorhaben an der Länderkammer
gescheitert sei. Die Mitwirkungsrechte des Bundesrates dürften ferner schon
deswegen nicht beschnitten werden, weil die Länder die Bundesgesetze - oft
unter großem Kostenaufwand - «als eigene Angelegenheit» durchzuführen hatten
(Art. 83 GG).
Zusammenfassend ist zu sagen, daß
sich das historisch gewachsene Föderalismusprinzip in der Bundesrepublik
Deutschland bewährt hat. Zum einen vermag es die Wünsche der Bevölkerung in den
Ländern auf Wahrung ihrer meist in der Tradition wurzelnden politischen und
kulturellen Eigenheiten zu erfüllen. Zum anderen überzeugt noch immer das
Argument Bayerns, daß «die Bedingungen für eine gedeihliche Entwicklung von
Staat und Volk» in den Einzelstaaten besser als im Gesammtstaat gegeben sind.
Denn erfahrungsgemäß entwickeln die Menschen in ihren Ländern engere
Beziehungen zur Politik als in einem für sie weniger überschaubaren
Gesamtstaat. Und schließlich wird das Föderalismus prinzip dem Bedürfnis nach
Machtverteilung gerecht. «Die Verteilung der Staatsaufgaben auf zwei staatliche
Ebenen, die unabhängig voneinander demokratische Legitimation beziehen, hat
sich unter den modernen Verhältnissen ebenso bewährt wie die Mitwirkung des
Bundesrates bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes» (CHR. STARCK).
Eine Änderung des
Föderalismusprinzips, nur weil zufällig einmal die Mehrheiten in Parlament und
Bundesrat auseinanderfallen, ist nach alledem keineswegs erstrebenswert.
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